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Wolfgang Neumann

Der singende Mensch

 

Aus der Antike ist uns folgendes Bild überliefert:

Der Mensch, als Leyer ausgespannt zwischen Himmel und Erde; ein Instrument, auf welchem die Götter zu spielen belieben.

Das dem Menschen gegebene Instrument ist seine Stimme. Als Singender kommt er diesem Bild vielleicht am nächsten.

 

Was nun ist das besondere am singenden Menschen?

 

  1. Gehobene Sprache

Nicht allein durch fixierte Tonhöhe, Melodik und Rhythmus ist die singende Sprache aus dem Alltag herausgehoben, jeder musikalische Stil entwickelt seine eigene Sprachform. Vom „stilo rappresentativo“ der Alten Musik über die Parlandokunst der Italiener bis zur Dramatischen Deklamation der Spätromantik reichen die Formen der mitteilenden Gesangskunst.

Aus der Notwendigkeit, in die dramatischen Handlungsabläufe der ersten Opern Ruheräume einzufügen, in welchen die Musik länger beim seelischen Zustand der handelnden Personen verweilen konnte, scheint sich die Form der Arie entwickelt zu haben. „Aria“, soviel wie „Luft“ besagend, würde so ein Aufatmen inmitten treibender Gefühle und Handlungen bedeuten.

 

  1. seine Überzeugungskraft

Wer kennt nicht die Redewendung aus Volkes Mund vom „Brustton der Überzeugung“! Dem Sänger, der es versteht, seinen ganzen Körper klanglich einzubeziehen, nehmen wir seine Aussage eher ab als einem, dessen Klangschönheit allenfalls an eine Kunstblume erinnert. Natürlich erliegen wir der Wirkung des gesprochenen Wortes ganz ähnlich.

Nicht nur Politiker und Manager haben erkannt, dass Stimmbeherrschung wie Körpersprache die Wirkung ihrer Worte entscheidend beeinflussen kann.

Singen ist eine Tätigkeit, an welcher die Aktion des Zwerchfells großen Anteil hat. Zwerchfellgesteuerte Vorgänge wirken ansteckend, Lachen oder Weinen sind beste Beispiele dafür. Das Zwerchfell des Zuhörenden übernimmt die Zwerchfellaktion des Singenden ähnlich wie eine in Resonanz befindliche Stimmgabel die Schwingungen einer anderen.

 

  1. Spontaneität

Manchmal ist der Hörer hingerissen von einer Gesangsdarbietung, ohne sich über die Ursachen im Klaren zu sein. Der Vortrag scheint aus dem Augenblick heraus geboren zu sein; der Zuhörer denkt keinen Moment daran, wie viel Zeit der Vortragende mit Studium und Übung zugebracht haben mag.

Die deutsche Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann nannte Spontaneität die „schönste Frucht jenes Reifevorgangs, der zu den Quellen der Natur zurückführt…“, in welchem der Hörer vor „vollendeter Natur“ steht. „Auch in ihm ist die Wirkung des Spontanen dann eine spontane.“

 

  1. Eutonischer Zustand

Die Vorgänge im Körperlichen wie auch im Seelischen beim Singen lassen sich gut mit dem Begriff der Eutonie als harmonischer Spannungszustand zwischen Verkrampfung (Überspannung) und Schlaffheit (Unterspannung) beschreiben. Dieser Zustand ist im Körper des Singenden als Nebeneinander verschiedener Spannungs- bzw. Lockerheitsgrade zu begreifen. Neben der höher anzusiedelnden Spannungstendenz von Atemstütze und Resonanzeinstellung ist etwa die Lockerheit von Zunge und Unterkiefer als geringere Spannung erfordernde Einstellung zu sehen.

Das Aufrichten des Körpers mit dem Ziel einer geraden Wirbelsäule und einer ausbalancierten Haltung ist Teil dieser Strategie.

In der Körperbalance lässt sich das eutonische Konzept zusammenfassen und in dauernden Besitz nehmen.

Im Seelischen ist dem Singenden der Zustand des Erstaunens als Grundeinstellung geläufig und vertraut.

 

  1. Konzentration

Im sogenannten Hatha-Yoga werden auf dem Wege der Atemschulung verschiedene Übungsformen gelehrt. Dies geht einher mit einer deutlichen Verlangsamung der Atemfrequenz und der Tonisierung verschiedener an Ein- und Ausatmung beteiligter Muskulaturen.

Eigenartigerweise ist die Form des Atemerlebens, welche im Yoga zur Konzentration als Vorstufe zur Meditation führen soll, ähnlich der klassischen sängerischen Atemführung, beim Singen eine gewisse Tendenz der Einatmung beizubehalten.

 

  1. Nachhaltigkeit

Der französische Arzt Alfred A. Tomatis kam in seinen Forschungen zu der Überzeugung, dass das menschliche Gehirn über das Innenohr energetisch aufgeladen würde, und zwar durch Klänge mit bestimmten Frequenzspektren. Bei einem Aufenthalt in einem Benediktiner-Kloster wurde er mit der Tatsache konfrontiert, dass die dortigen Mönche unter enormen Erschöpfungszuständen litten. Nachdem er erfahren hatte, dass durch eine Reform das tägliche mehrstündige Singen aufgegeben worden war, überzeugte er den befreundeten Abt zu einem Versuch mit der Wiedereinführung der alten Tagesabläufe. Er berichtet, dass die aufmunternde Wirkung schlagartig einsetzte, nachdem die Mönche ihr Singpensum wieder aufgenommen hatten.

Tomatis gelangte zu der Erkenntnis, dass nichts so dynamisiere wie die eigene gute Stimme des Menschen.

 

  1. ein Spielender zu sein

Schiller prägte das Wort: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Wir sprechen von Klavierspiel, von Geigenspiel, manchmal von einer Spielernatur oder vom Spielverderber.

Wie oft nehmen wir wahr, dass ein Kind in der Selbstvergessenheit seines Spiels Leistungen vollbringt, zu denen es mit der Anweisung: „Du musst!“ niemals fähig wäre. Wenn nach 10 Versuchen der Turm aus Bausteinen nicht mehr einstürzt, hat es alle seine kreativen Energien eingesetzt, um dies zu vollbringen. Und genießt das Vergnügen der Leistung.

Wohl dem, der Klavier “spielen“, Geige “spielen“  lernt; ohne durch trockene lustlose Methoden an die Kandare genommen zu werden.

Der als Singender lustvoll die „Spielräume“ seiner Stimme erkundet: wie alle Musiker erwirbt er sich seine „Spielkultur“, in der das Wissen, dass es bei einem jedem Spiel eine Wiederholung geben kann, Stress abbauen hilft. Bis hin zu jener Leistung auf dem Podium, die höchsten Ansprüchen genügt…und sich bei aller Intensität die Welt des Spiels bewahrt hat.

 

 

So wäre der Mensch, als Instrument von den Göttern gespielt, also selbst ein Spielender.

Eine theologisch interessante Illustration zur Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbilde Gottes…

 

 

Die Wissenden werden bemerken, dass meine Formulierungen mitunter Schriften von Franziska Martienssen-Lohmann entlehnt sind.